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Bin ich hochsensibel?

“Wir sind Träumer und Idealisten. Aber wir sind auch leidenschaftlich, tiefsinnig, kreativ, im Kontakt mit unseren Gefühlen und mitfühlend - und wir haben den Blick fürs große Ganze. Wir können die Gefühle anderer würdigen sowie loyale Freunde und Ehepartner werden. Wir sind intuitiv und spirituell und haben ein feines Gespür für Energie. (…) Wir sind im Einklang mit der Natur, (…) und oft haben wir eine besondere Affinität zu Wasser.”

Als ich diese Zeilen von Psychiaterin Judith Orloff (2018) lese, erkenne ich mich gleich wieder. Von wem spricht sie? Ich drehe das Buch um, schaue mir das Cover genauer an. “Das Überlebenshandbuch für Empathen und Hochsensible”. Oh. Interessant.

Hochsensibilität - was steckt genau dahinter?

Lange Zeit hatte ich den Begriff “sensibel” negativ konnotiert. Warum eigentlich? “Stell dich nicht so an!”, den Satz hatte ich so oft gehört und damit eine Abwertung verbunden. Konnte es auch eine positive Perspektive auf den Begriff geben? Nachdem mein Interesse nun geweckt ist, begebe ich mich auf die Suche nach weiterer Literatur. Was ist das genau, Hochsensibilität?

Zunächst überfliege ich einen Wikipedia-Artikel, der recht kritisch und vorsichtig zusammenfasst, dass es sich bei der Hochsensibilität - die auch Hypersensitivät oder Hypersensibilität genannt wird - um kein wissenschaftlich einheitlich anerkanntes Phänomen handelt. Einige Namen von Psycholog:innen fallen, welche sich seit den 90er Jahren damit beschäftigen. Soweit, so gut. Ich suche weiter und begegne der Orchideen-Löwenzahn-Metapher.

Von der Orchideen-Löwenzahn-Metapher

Betrachten wir Sensitivität oder Sensibilität als Kontinuum, so können hoch-sensitive oder hochsensible Menschen als Orchideen gesehen werden, welche nur in ihrem idealen Umfeld prächtig aufblühen, während niedrig-sensitive Menschen als Löwenzahn geschrieben werden, welche unabhängig von ihrer Umgebung überall Wurzeln schlagen und sich entfalten können. Als dritte Komponente auf diesem Kontinuum beschreiben Lionetti/Aron/Burns/Jagiellowicz und Pluess (2018) eine Tulpe: Menschen mit mittlerer Sensitivität.

Ich liebe Natur-Metaphern. Nun möchte ich es allerdings ganz genau wissen: Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es bisher zu dem Konzept? Von wem stammt es und wer beschäftigt sich heute damit?

Wissenschaftliche Hintergründe zum Konzept der Hochsensitivität

Im Jahr 1997 publizierten die Psychologin Elaine Nancy Aron und der Psychologe Arthur Aron zum ersten Mal an der State University of New York at Stony Brook zu einem Konstrukt, das sie "Sensory-Processing Sensitivity" nannten. Darin gehen sie zunächst auf die Forschung zu Introversion und Extraversion ein und betonen die biochemischen Unterschiede in der Verarbeitung von Reizen:

“They are differentially affected by caffeine, so that, for example, analgesics and caffeine together can increase pain sensitivity in introverts but not in extraverts. ”

— Haler, Reynolds, Prager, Cox, & Buchsbaum (1991) | in: Aron & Aron (1997)

Nach Verknüpfung verschiedenster wissenschaftlicher Inhalte aus weltweit publizierten Artikeln präsentieren sie ihre Ergebnisse aus sieben Untersuchungen, wobei die erste Studie qualitativ durchgeführt wurde und die sechs folgenden aufbauend darauf quantitativ nach sich wiederholenden Mustern suchte. Aron & Aron wollen damit eine anteilige Unabhängigkeit des Konzepts der High Sensory-Processing Sensitivity von Sozialer Introversion und Emotionalität identifiziert haben, Konzepte, die bis zu diesem Zeitpunkt in der Wissenschaft oft vereint gesehen wurden.

Kritische Stimmen zum Konstrukt der Hochsensibilität

Viele Artikel, welche online zum Thema Hochsensibilität zu finden sind, betonen die wissenschaftliche Umstrittenheit des Konzepts. Zitiert wird wiederholt die Publikation von Aron & Aron (1997), welche ihre eigenen Grenzen in ihren wissenschaftlichen Methoden transparent darlegen: Viele Ergebnisse basieren auf retrospektiven Beschreibungen von Studien-Teilnehmer:innen, welche nicht weiter in der Tiefe erforscht wurden.

“All of these results have limitations, of course.”

— Aron & Aron (1997)

Trotzdem hat sich seither in der psychologischen Forschung zu Konzepten wie Hochsensibilität, bzw. Sensitivität etwas bewegt. Das zeigt zum Beispiel ein Gastbeitrag der Psychologin Hildegard Marxer auf dem Schweizer Portal Das Potenzial der Hochsensiblen aus dem Jahr 2018: Darin werden neben Aron & Aron auch noch sieben weitere wissenschaftliche Publikationen zitiert, welche sich mit Konzepten der Sensitivität beschäftigen. Marxer beschreibt hier die Zusammenführung von mehreren Forschungssträngen, nämlich der

  • Sensory-Processing Sensitivity (wie oben beschrieben zurückzuführen auf Aron & Aron 1997)

  • Differential Susceptibility - Dieses Konzept nach Pluess & Belsky (2013) beschäftigt sich mit unterschiedlicher Empfänglichkeit für positive und negative Erfahrungen und

  • Biological Sensitivity to Context - Dieses Forschung nach Boyce & Ellis (2005) beleuchtet das Umfeld und Umweltfaktoren in Kindheitstagen von hoch stress-reaktiven Menschen.

Weitere Spuren führen zu Stress-Forschungen

Auf der Suche nach wissenschaftlichen Spuren zu Sensibilität und Sensitivität kommt ein Kernthema wiederholt vor: der Umgang mit Stress. Wer an dieser Stelle inhaltlich noch weiter eintauchen möchte, wird hier bei Stress-Forschungen fündig: Das Vulnerabilitäts-Stress-Modell setzt sich beispielsweise mit der Neigung von Menschen auseinander, auf Belastungen zu reagieren.

Neben wissenschaftlichen Informationen sind auch erlebnisorientierte Formate eine große Unterstützung für alle, die sich in den Konzepten von Hochsensibilität, Sensitivität und Introversion wiederfinden: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (nach dem englischen Mindfulness Based Stress Reduction auch MBSR genannt) vereint Achtsamkeitspraktiken aus dem Buddhismus mit wissenschaftlichen Erkenntnissen (nach Jon Kabat-Zinn von der University of Massachusetts) und dient einer ganzheitlich gesünderen Lebensführung. Es findet zunehmend Akzeptanz in Unternehmen und wird sogar von Gesundheitskassen finanziell unterstützt.

Stärken von hochsensiblen Menschen

Erkennst du dich in der einen oder anderen Beschreibung wieder? Wie feinfühlig nimmst du wahr, wie gehst du mit Stress um? Sensibilität bzw. Sensitivität nicht als Schwäche, sondern als Stärke zu sehen, kann unser Leben grundlegend verändern. Der Tag, als ich den Satz “Du bist so sensibel!” nicht mehr als kritischen Angriff, sondern als Lob genommen habe (egal, wie er gemeint war), hat meine Perspektive auf mich und meine Stärken neu definiert. Orloff (2018) hebt folgende Eigenschaften von hochsensiblen Menschen als Stärken hervor:

  • Träumer, Idealisten

  • Blick fürs große Ganze

  • feines Gespür für Energie

 

In welchen Rollen könnten Menschen mit diesen Merkmalen einen besonders wertvollen Beitrag in unserer Gesellschaft liefern? Beispielsweise als Gründer:innen, die mit ihrem Glauben an ihre große, idealistische Idee und ihrem Blick fürs große Ganze innovativ Neues erschaffen. Als Führungskräfte, die mit ihrem feinen Gespür die Bedürfnisse ihrer Teammitglieder bemerken und einordnen können. In therapeutischen Berufen können sensible und feinfühlige Menschen besonders empathisch auf andere eingehen. Welche Rollen kommen dir noch in den Sinn?

Silvia Harke (2019) orientiert sich bei Stärken von Hochsensiblen an den 5 Sinnen:

  • Sehen: intuitives Verständnis für Farben, Formen, Harmonie, Sinn für Ästhetik, genaues Erkennen von visuellen Details

  • Hören: Rhythmusempfinden, Musikalität, hört feinste Nuancen

  • Riechen & Schmecken: differenzierte Wahrnehmung von Gerüchen & Geschmäckern

  • Fühlen: differenzierte Wahrnehmung von Formen, Berührungsimpulsen, Oberflächen, Strukturen

 

Dazu ergänzt sie noch eine bewusste Körperwahrnehmung und eine besonders gute zwischenmenschliche Wahrnehmung: Laut Harke (2019) sind hochsensible Menschen…

  • …oft gute Zuhörer:innen

  • …und können nonverbale Signale wie Körpersprache, Ausstrahlung, Stimmungszustand von anderen differenziert und schnell erfassen.

Abgrenzung als Schlüssel

Um Charaktereigenschaften zu Stärken zu machen, ist es entscheidend, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln. Um Überforderungszustände zu verhindern, sind Werkzeuge für Abgrenzung besonders wichtig und hilfreich.

Wenn du feinfühlig wahrnimmst, brauchst du wahrscheinlich viel Raum und Zeit für dich.
Nimm sie dir. Du darfst “nein” sagen.

Wenn du sensibel bist, nimmst du wahrscheinlich sehr viele Energien & Stimmungen wahr.
Gehe immer wieder bewusst in dich, um bei dir zu bleiben. Zwischendurch die Augen zu schließen und tief durchzuatmen kann dabei unterstützen.

Wenn du feinfühlig wahrnimmst, fühlst du dich vielleicht schnell gestresst.
Sammle bewusst Aktivitäten, die deine Batterien aufladen. Was gibt dir Kraft?

Quellen

Aron, E. N. & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of Personality and Social Psychology, 73, 345-368.

Harke, Silvia (2019). Hochsensibel. Was tun? Goldmann Verlag.

Lionetti, F., Aron, A., Aron, E. N., Burns, G. L., Jagiellowicz, J., & Pluess, M. (2018). Dandelions, tulips and orchids: evidence for the existence of low-sensitive, medium-sensitive and high-sensitive individuals. Translational psychiatry, 8(1), 24. https://doi.org/10.1038/s41398-017-0090-6

Orloff, Judith (2018). Wenn dir alles unter die Haut geht. Das Überlebenshandbuch für Empathen und Hochsensible. Trinity.

Pluess, M. & Belsky, J. (2013). Vantage sensitivity: Individual differences in response to positive experiences. Psychological Bulletin, 139(4), 901-916.

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